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BeitragVerfasst: Fr 15. Aug 2014, 02:04 
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Mit ihrem zweiten Album aus dem Jahr 1972 (auf Philips' Sub-Label Vertigo veröffentlicht) ragte diese deutsche Band mit britischem Sänger - hier zweifelsohne auf dem absoluten Höhepunkt ihrer Schaffenskraft - meines Erachtens turm-, wenn nicht gar bergehoch über jegliche nationale wie internationale Konkurrenz hinaus. Das Album, im Januar 1972 in Hamburg aufgenommen, steht in meinen Augen völlig allein da (nicht nur) in seiner Zeit. :)

Enorm imaginatives Songwriting, verfremdete Sounds, vertrackte Rhythmuswechsel, mystische orchestrale Atmosphäre, surrealistische, wahrlich poetische Lyrics, größtenteils beigesteuert von John O'Brian-Docker.

Spielerische Finesse ersten Grades, gesangliche Höchstleistungen, unerwartete Harmoniewechsel vom Hochmelodiösen ins scheinbar (oder wirklich) Atonale und wieder zurück.

Das Ganze auch noch allererste Sahne produziert von der Band selbst mit Unterstützung von Conny Plank und Herbert Hildebrandt (Rattles anywhere?) :mrgreen:

Gewiss ist dieses Albums nichts für jedermann ;) und schon gar nichts zum "einfach so nebenbei Hören", eine musikalische Tour-de-Force ersten Ranges ist es allerdings, die es mehr als (einmal) verdient hat, sich ohne Vorbehalt darauf einzulassen.

Die Besetzung:

Peter Hesslein: Gitarre, Akustikgitarre, Percussion, Backing Vocals.
Peter Hecht: Piano, Orgel, E-Piano, Moog Synthesizer, Mellotron, Strings & Brass arrangements.
John Lawton: Lead Vocals
Dieter Horns: Fender-Bass, Bassgeige.
Joachim Rietenbach: Schlagzeug, Percussion.

Hobo:

Das Album beginnt mit dem noch relativ geradlinigen, von treibender Percussion zum Grooven gebrachten Uptempo-Rocker "Hobo", der gesanglich (toller Hardrockgesang von Lawton, der sich vor zeitgleichen Konkurrenten wie Plant und Gillan keineswegs zu verstecken brauchte) "sogar" Ansätze zu einer eingängigen Hookline besitzt. Wundervolles Wah-Solo von Hesslein.

Rose on the vine:

Bleibt genannter Einstiegssong noch im Bereich des "Normalen", wenn auch überdurchschnittlich fein dargeboten, deutet der zweite Song "Rose on the vine" bereits im Eingang an, auf welch ungewöhnliche Reise der Hörer hier eingeladen wird. Wunderschönes, verstörendes Klavierintro mit leichten Anleihen bei der Zwölftonmusik, das sich von der Intensität immer mehr steigert, bis es sich in einer Dissonanz auflöst und nun von der E-Gitarre das durchaus ungewöhnliche Leitmotiv übernommen wird. Nicht weniger ungewöhnlich die folgenden Gesangslinien, dabei doch alles auf seltsame Weise im Melodischen bleibend, ebenso die Bassstrukturen. Zwischendurch ein kurzer, aber trügender Wechsel ins Blues-Schema, sofort wieder unterbrochen, dann ein Akustikgitarrenpart mit jazzig-bluesigem Touch und ungewöhnlicher Rhythmus-/Akkordarbeit, abgelöst durch einen doomig-rockigen Part, mit Klavier unterlegt, auch Lawton zeigt hier all seinen Zeitgenossen die Grenzen des gesanglich Möglichen auf... und schon - mehrmals unterbrochen von dissonanten Phasen - wechselt der Song wiederum mehrmals, in jazzig-psychedelische, beinah außerirdisch anmutende Sequenzen abgleitend, Echo-Gitarren überlagern sich, dann wieder zurück zum trotz seiner Bizarrheit fast heroisch wirkenden Leitmotiv, am Ende auch die Stimme verfremdet, und der Song wird samt Klavier heruntergedreht (nicht lautstärke-, sondern geschwindigkeitsbezogen).

Mother:

Beginnt, von Klavier unterlegt, als episch-erhabene, traurige Ballade, irgendwo zwischen Jazz, Klassik und Hardrock gelagert, man vermag es aber nicht wirklich zu orten. Geniale, ich wiederhole, GENIALE Melodieführung, ich kenne kein vergleichbares Lied. Dann auf einmal der Einbruch. Atonales, beunruhigendes Gefiedel, von a-rhythmischen Klavierakkorden getrieben. Auf einmal wird fast ein Blues daraus, wenn auch wiederum mit gänzlich untypischem Rhythmus unterlegt. Und so setzt sich das Stück fort. Schließlich Lawtons Gesang zweistimmig, einfach unglaublich, was er hier gesangstechnisch wie emotional abliefert.
Ein gephaster Klavierton gibt rhythmisch den nun folgenden Leadpart vor, wiederum ein großartiges Solo von Hesslein, vom treibenden Schlagzeug unterstützt, dann dieser EINE, unglaublich traurige, singende Gitarrenton, der nach unten abfällt, und schon beginnt wieder dieser unvergleichliche Balladenpart. Am Ende ein paar klagende, düstere Klavierakkorde und es ist überstanden (im positiven Sinne). (Komm mir beim Beschreiben dieses Albums beinah vor wie der Moderator eines Fußball-WM-Spiels :mrgreen: )

...Where the groupies killed the blues

Naja, jede andere "progressive Hardrockband" nicht nur von 1972 kann bei diesem Song bezüglich ihrer kompositorischen Fähigkeiten einpacken und weinend nach Hause gehen. 8-) Ich meine wirklich JEDE. Ja, jede! :P Gerne auch viel spätere "Progressive Metal Bands" wie Dream Theater. Gute Nacht ;)
Ich erspare mir hier die Beschreibung des Songaufbaus oder der spielerischen / textlichen Einzelleistungen. Einfach selbst hören und genießen. :)
Am Ende dieses Songs die traurige Erkenntnis: "Humpty Dumpty won't come back. Won't come baaaaack."
("Doom" pur an dieser Stelle, vergesst Black Sabbath). Nuff said. :lol:

Prince of Darkness:

John Bonham who? :oops: (Ich begehe wohl gerade ein Sakrileg? Nö, keineswegs.)
Iron Maiden who? :mrgreen: Tja... WANN waren die nochmal?
Dieser Song hier ist eines der Urbilder einer künftigen Richtung, die man nicht unbedingt mögen muss :P , um diesen Song hier zu genießen, zu lieben und zu verehren. :) Es ist ein gewaltiger Archetypos, noch dazu mit wunderbarer Klavierbegleitung statt künstlichem Synthiegeklimper.

Zitat:
"Down to your world go I,
into your flames I'll fly..."


Schöner hätte es auch ein Ronnie James Dio (Elf, Ritchie Blackmore's Rainbow) weder sagen noch singen - ein weiteres Sakrileg meinerseits? 8-) - können. Der ganz offensichtlich zu dieser Zeit von Lawton "gelernt" haben muss, denn diese typische Dio-Art ;) zu singen findet man bereits hier, und zwar bei Lawton (teils schon 1970), bei Dio (damals noch bei Elf) hingegen noch nicht.

Summerdream / Delirium / No reason or rhyme

Hier muss ich doch nochmal ein bisschen weiter ausholen.

Bedrohlich orchestrierter Einstieg.
Eine traurige Bassgeige setzt ein, von einer fern scheinenden, einsam schimmernden Akustikgitarre begleitet. *schwelg*
Ein knackig-singender Basston schließt sich dem bisherigen Gefüge an. Jedes Instrument scheint an einem anderen Ort zu sein (tolle Mischleistung für damals :) ). Traurig-verzweifelter Gesang setzt ein. 8-)
Dann ein tragisches Klavier, alsbald von kleinem Orchester unterstützt. Der Gesang nun mehrstimmig. *nochmehrschwelg*
Ein Spinett setzt kurz ein, dann - schleppend-dämonisch, wieder die Bassgeige, weitere Streicher. Schräge Basslinien, ein nervös irrend um sich tastendes Schlagzeug, das beinahe wie eine multidimensionale Erweiterung des bedrohlichen Jazz-Getrommels auf Scott Walkers B-Seite "The plague" anmutet. Die Streicher, zunehmend gespenstig-enervierender spielend, nun um plärrend-fiese Bläser ergänzt.
Dann wieder alles ruhiger, aber nicht weniger angespannt, Pauken und ein Klavier setzen ein.
Auf einmal kehrt unterdrückte Hektik ein, geniales Schlagzeugspiel auch hier.
Dann... fast Stille... der Gesang nun noch verzweifelter als zuvor.
Wieder orchestrale Anspannung.
"Goodbye, fare thee well my friend..." den Rest müsst ihr selber hören. :)

Am Ende dieses wahren Meisterwerks (ein all zu oft zu Unrecht vorschnell oder von der Masse an durchschnittliche Künstler vergebener Titel) von Album - eine Art Erlösung und Seelenbalsam für den Hörer:

Burning Ships:

Wellenrauschen, 12-string-Guitars, Südseepercussion?, fast eine "sanft-rauh" gesungene Schnulze, nur - was für eine! Falls "I am sailing" hier abgekupfert wurde, hat es sein Ziel trotz kommerziellem Erfolg verfehlt. 8-)
Singende Leadgitarren im Hintergrund lassen gegen Ende beinahe hymnischen Charakter entstehen.

Gegen den Schluss hin - o Schreck? - wird das Ganze zu ... hm... anthemischem Moog-Power-Pop?
Die düstere Stimmung wird fast völlig aufgelöst, auf unerwartete Art und Weise. Entlässt den Hörer nach all der Anspannung in beinahe versöhnlicher, wenn auch verwirrender Geste. Er darf jetzt wieder zu den Normalos in die Disco gehn. Alles wieder gut. :lol:

Für mich eines der mutigsten, richtungsweisendsten, faszinierendsten und kreativsten Alben, das ich kenne. Das sind zwar nicht wenige. Aber dieses hier halte ich seit Ewigkeiten für eines der besten musikalischen Gesamtstatements (sprich: Umfangreiches Werk aus einem Guss mit Anspruch auf Genialität, Genuss und Liebenswürdigkeit) und werde diese meine Meinung ohne jedes "Wenn und Aber" dereinst "mit ins Grab nehmen". :)

Die manchmal verständliche und teils sogar nachvollziehbare Aussage: "Nö, harten Rock mag ich gar nicht, das ist doch nur Lärm, keine Musik, brauchst mir gar nicht erst einen Link dazu geben", lasse ich hier jedenfalls nicht gelten. :)

Noch ein bisschen was zum Bandhintergrund:

Die Wurzeln von Lucifer's Friend lagen teils bei der deutschen Beat-Band "The German Bonds", direkter Vorläufer dann war "Asterix" (hatten ein Album, 1970, auf dem der frisch engagierte Lawton nur teilweise singen durfte).

1970 erschien auch das gleichnamige Debutalbum der Band LF, durchwegs ein hochklassiges, teils düsteres, teils bluesiges Hardrockalbum, das man sich getrost neben Deep Purple's "In rock" und Led Zeppelin "III" ins Regal stellen darf, beide genannten Alben erfahren dadurch eine Aufwertung und sinnvolle Ergänzung. Ok, Black Sabbath's Debut darf sich hier auch "vorsichtig" setzen.

Nachdem "Where the groupies killed the blues" erwartungsgemäß bei einem Massenpublikum keinerlei Erfolg erzielen konnte, wurde die Band von ihrem Management zum Kommerzschwenk gezwungen.

Ein schwaches und belangloses, wenn auch in technischer Hinsicht perfekt eingespieltes Mainstreamalbum war die Folge und zeitigte darum auch in den USA (worauf dieser Schwenk abzielte) einen gewissen Erfolg.

Ein letztes künstlerisches Aufbäumen erfolgte zwar, und man gewährte der Gruppe ein 40-köpfiges Orchester.
Das Ergebnis war das Album "Banquet", einerseits vielleicht das grandioseste (ziemlich jazzig angehauchte) Album, das eine deutsche Hardrockband jemals aufgenommen hat, andererseits sind hier wiederum Ansätze klar erkennbar, die Band einem Massenpublikum schmackhaft zu machen. Will heißen: Tötende, unpassende Kitschelemente.
Ich liebe das Album "Banquet" zwar, betrachte es aber mit sehr gemischten, zwiespältigen Gefühlen.
Es ist genial, stellenweise aber zu schmalzig für eine Rockband.
Die musikalischen Einzelleistungen sind sicherlich grandios.
Nur schmeckt hier das Fleisch bisweilen nach Fisch, bzw. umgekehrt.

"Where the groupies killed the blues" hingegen leidet nicht unter diesem erkennbaren Druck.
Ich erkläre das Album hiermit für (un-)heilig, und wehe, es widerspricht mir wer darin. *g*

Doch wie ging's weiter?

Nun, die Band wurde wiederum in die angeblich kommerziell wirksamere Hardrockrichtung gedrängt, konnte sich nie mehr wirklich erholen oder irgendwie etablieren. Lawton wechselte immerhin rechtzeitig zu Uriah Heep, aber die waren zu dem Zeitpunkt leider auch nur noch Ziel kommerzieller Interessen (Free me, Come back to me etc.). Immerhin brachte es ihm vermutlich ein paar - inzwischen mehr als notwendige - Kröten ein.

LF waren innerlich (leider? nein...) viel zu intelligent und anderen Welten verschrieben, als dass sie nun etwa ein drei-akkordiges deutsches "TNT" schreiben hätten können. Alles was folgte, war professionell, aber erkennbar lieblos gespielter "Kommerz-Hardrock" (ohne kommerziellen Erfolg, wohlgemerkt). Man hatte eine ureigene Bande von musikalischen Genies durch das Drängen in eine ihnen völlig fremde, unliebe Ecke musikalisch kastriert, enthauptet und in die totale Belanglosigkeit hinabgestoßen.

Zitat:
"Down to your world go I,
into your flames I'll fly..."


Das klingt aus der Retroperspektive fast prophetisch.
Ersetze aber den Pferdefüßigen, nach Schwefel stinkenden Lümmel durch die damalige deutsche Plattenindustrie...

Inzwischen sind alle längst woanders gelandet (gab vor langem auch mal eine kurzfristige LF Halb-Reunion, Album "Sumo Grip").
Auch John Lawton "is alive and (hopefully) well".
Besitzt eine eigene Homepage und macht mal mit dieser, mal mit jener Band ein Album.
Einiges Schöne darunter. Die Magie des 72-er LF Albums ist jedoch nie mehr wiedergekehrt, die hat man wohl gründlichst bei allen Beteiligten zerstört...

Die meisten Menschen verbinden John Lawtons Stimme heute wohl (größtenteils ohne um ihn zu wissen) mit dem kitschigen Schlagersong "Mama Loo" von den Les Humphries Singers.

Auch das einer dieser kurzfristigen Brotjobs darbender Musiker.

Immerhin wurde es ein "Hit" für den fast immer hochverschuldeten "Les" - kein Wunder, wer sonst hätte da so rauf singen können? Etwa Gillan? Nicht mit dieser angenehmen Rauheit in der Stimme, so sehr ich den frühen Gillan auch schätze.

Zu Asterix- und auch noch frühen Lucifer's Friend- Zeiten schlug sich die Restband (ohne Lawton, der anderweitig um Aushilfsvocaljobs rang) mit Billigprojekten wie "Electric Food" u. a. herum (für das vorrangig als Märchenlabel bekannte "Europa"!).
Man gab ihnen dort keinerlei Zeit im Studio, kaum "Sold", und dennoch spielten sie, ohne bei Fehlern / Unzufriedenheit die Möglichkeit zu einem zweiten "Take" zu bekommen, mehrere Alben ein, einfach um existieren zu können.

Aber genug erzählt, wer Blut geleckt haben sollte, wird sich sicherlich selbst schlauer machen.

Hab ich noch was vergessen? *grübel*

Hm, ja, den Link zum oben rezensierten Album. :)

http://www.youtube.com/watch?v=RCaJuzeiY4U


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